Die bisherige Untersuchung hat bereits zur Vergleichung zweier nebeneinander gelagerter Plätze geführt und sind solche Gruppenbildungen schon mehrfach in den mitgeteilten Planskizzen vorgekommen. Sie sind eben, besonders in Italien, ein so häufiges Motiv, daß man die Platzgruppe als Mittelpunkt der Stadt bei den Hauptgebäuden geradezu als Regel annehmen kann und den Einzelplatz als die Ausnahme. Es hängt auch dies wieder mit der Geschlossenheit der Plätze und mit dem Grundmotiv des Einbauens der Kirchen und Paläste zusammen. Ganz deutlich kann das aus Abb. 45 ersehen werden. Die Piazza Grande hat da offenbar die Bedeutung, die Seitenfassade der Kirche zur Ansicht zu bringen. Folgerichtig entwickelt sich dieselbe als Breitenplatz und geht in dieser Richtung nur noch über die Koncha hinaus.
Abb. 45.
MODENA:
I. Piazza delle Legna.
II. Piazza Grande.
III. Piazza Torre.
Man könnte es theoretisch so aussprechen, daß hier ein Seiten-fassadenplatz mit einem Konchenplatz zusammengeflossen ist. Die Trennung gegen den Platz I ist aber deutlich ausgesprochen und hiedurch auch die Piazza Grande als ein Ganzes zusammengefaßt. Piazza Torre ist wieder eine Individualität für sich, deren Aufgabe sichtlich die Geltendmachung des Turmbaues ist, der wie auf einem Bühnenbild zur vollen
Wirkung kommen soll und kommt. Der dritte Platz dient lediglich der Kirchenfassade, ist regelrecht ein Tiefenplatz, noch überdies mit einem Straßenzug gerade aufs Portal gerichtet und läßt an Geschlossenheit des Bildes nichts zu wünschen übrig. Eine ähnlich merkwürdige Platzvereinigung bilden in Lucca die Piazza Grande (Via del Duomo) und der doppelte Domplatz, eine Hälfte vorne, eine Hälfte an der Seitenfassade, während der Dom selbst eingebaut ist. Diese und zahlreiche ähnliche Beispiele sehen sich genau so an, als ob die einzelnen Gebäudefassaden die Bildung der dazugehörigen Plätze geradezu veranlaßt hätten, um sie einzeln jede für sich zur denkbar möglichsten Wirkung zu bringen; denn man kann sich nicht gut vorstellen, wie von vornherein zwei oder drei Plätze gerade so sollen nebeneinander gelagert gewesen sein, daß dann die einzelnen Teile der Kirche so gut hinpassen. Sicher ist, daß nur diese Art Platzanlage die höchste Ausnützung aller Schönheiten eines Monumentalbaues zuläßt. Drei Plätze und drei Stadtbilder, ein jedes anders und jedes ein in sich harmonisch geschlossenes Ganzes, das alles aus einer einzigen Kirche herauszubekommen, mehr kann man wahrlich nicht verlangen. Da zeigt sie sich wieder so recht im hellsten Lichte, die weise Ökonomie der alten Meister, welche mit geringer mechanischer Kraft künstlerisch Großes zu leisten vermochten. Man könnte diese Methode der Platzanlage geradezu die Methode der höchsten Ausnützung der Monumentalbauten nennen; es ist nichts anderes. Jede merkwürdige Fassade bekommt ihren eigenen Platz. Umgekehrt aber auch jeder Platz seine Marmorfassade und das ist ebensoviel wert, denn man hat sie nicht so überall gleich zur Hand, diese kostbaren Steinfassaden, wie sie für jeden Platz allerdings höchst wünschenswert wären, um ihn über das Gewöhnliche hinweg zu heben.
Auch diese geradezu raffiniert kluge Methode ist beim modernen Stadtbausystem gänzlich unverwertbar, denn sie hat zur Voraussetzung ihrer Anwendbarkeit die Geschlossenheit der Plätze und das Einbauen der Monumentalbauten an die Wand derselben; Dinge, welche der heutigen Mode, besonders dem allmächtigen Freistellungswahn, schnurgerade widersprechen.
Doch lieber zurück zu den alten Meistern! Abb. 46 stellt eine ähnliche Platzvereinigung vor: Piazza d’Erbe (zu Mantua) als Breitenplatz entwickelt, dagegen vor dem Hauptportale der Kirche ein Tiefenplatz herausgeschnitten.
Abb. 46.
MANTUA: S. Andrea. I. Piazza d’Erbe.
Zu Perugia ist die Piazza del Duomo (Abb. 47) zugleich vom Palazzo comunale dominiert und somit zugleich Rathausplatz; ein zweiter kleinerer Platz ist aber noch besonders dem Dome gewidmet. Zu Vicenza sind zwei Plätze der Basilika des Palladio (Abb. 48) zugeteilt, jeder von besonderem Charakter. Auch die Signoria zu Florenz hat ihren Nebenplatz von ganz besonderer Wirkung in dem Portico degli Uffici. Diese Signoria ist, architektonisch genommen, überhaupt der merkwürdigste Platz der Welt. Alle Motive des alten Städtebaues in bezug auf Form, Größe,
Abb. 47.
PERUGIA:
I. Piazza del Duomo. II. Piazza del Papa. a. Palazzo comunale.
Nebenplatz, Straßenmündung, Brunnen- und Monumentalaufstellung sind hier vereint, aber jedes derselben bis zu einem gewissen Grad verhüllt, so daß es gesucht sein will und man nur die Wirkung verspürt, ohne die Ursache zu merken. Dennoch ist eine Fülle künstlerischen Geistes hier verbraucht, wie sonst nirgends wieder.
Generationen von Künstlern ersten Ranges haben durch Jahrhunderte der an sich ungünstigen spröden Situation dieses Meisterwerk des Städtebaues abgerungen. Deshalb aber kann man sich daran auch nicht sattsehen, und die Verhüllung des Kunstapparates, womit das alles zustande kam, trägt gewiß nicht wenig dazu bei.
Eine der herrlichsten Vereinigungen von zwei Plätzen bildet das Herz Venedigs.
Der Markusplatz (I) und die Piazzetta (II) in Abb. 49. Der erstere ein Höhenplatz in bezug auf S. Marco, ein Breitenplatz in bezug auf die Prokurazien. Der zweite ein Breitenplatz in bezug auf die Front des Dogenpalastes, aber vor allem ein Tiefenplatz in bezug auf die herrliche Aussicht über den Canal grande nach S. Giorgio Maggiore hinüber. Noch ein dritter kleiner Platz schließt sich seitwärts von S. Marco an. So viel Schönheit ist auf diesem einzigen Fleckchen Welt vereinigt, daß kein Maler noch je Schöneres ersonnen hat an architektonischen Hintergründen, kein Theater noch je Sinneberückenderes gesehen hat, als es hier in Wirklichkeit zu erstehen vermochte. Das ist in Wahrheit der Herrschersitz einer großen Macht, einer Macht des Geistes, der Kunst und Industrie, welche die Schätze der Welt auf ihren Schiffen vereinigt, von hier aus aber die Herrschaft über die Meere ausübt, an diesem schönsten Punkte des Erdenrundes die gewonnenen Schätze genießt. Nicht einmal Titian und Paul Veronese haben in ihren frei komponierten Stadtbildern (Hintergründe der großen Hochzeitsbilder etc.) etwas noch Herrlicheres zu ersinnen vermocht. Sehen wir zu, mit welchen Mitteln diese unübertroffene Pracht erreicht ist, so zeigen sich die aufgewendeten Mittel allerdings von ungewöhnlichster Art. Die Wirkung des Meeres, die Häufung prächtigster Monumentalbauten, die Fülle von plastischem Schmuck an denselben, die Farbenpracht von S. Marco, der gewaltige Kampanile. Das alles ist aber auch vortrefflich gestellt und die gute Aufstellung gehört entschieden mit zum Ganzen. Zweifeln wir nicht daran, daß alle
Abb. 48.
VICENZA:
Piazza dei Signori vor der Basilika des Palladio.
diese Kunstwerke, nach modernem System verzettelt aufgestellt, schnurgerade nach geometrischen Mittelpunkten, in ihrer Wirkung unglaublich erniedrigt werden könnten. Man denke sich S. Marco freigelegt; in der Achse des Hauptportales inmitten eines riesigen modernen Platzes den Kampanile, die Prokurazien, Bibliothek etc., statt eng geschlossen nach dem modernen "Blocksystem« einzeln herumgestellt und an einem solchen sogenannten Platz dann noch gar eine Ringstraße von nahezu 60 m Breite vorbeigeführt. Man kann
Abb. 49.
VENEDIG: I. P. S. Marco. II. Piazzetta
den Gedanken nicht ausdenken. Alles vernichtet, alles! Es gehört eben doch beides zusammen; sowohl schöne Bauten und Monumente als auch eine gute richtige Aufstellung derselben. Die Formation des Markusplatzes und seiner Nebenplätze ist aber gut, nach allen bisher erkannten Regeln, und möge besonders die seitliche Stellung des Kampanile (s. auch Abb. 50) beachtet werden, der an der Scheide des großen und kleinen Platzes Wache hält.
Schließlich sei noch der Wirkung gedacht, welche durch so geschickte Kombination mehrerer Plätze möglich wird,
Abb. 50. VENEDIG: Die Piazzetta.
infolge des Herumgehens von einem zum anderen. Die Vorbereitung des Auges ist dann jedesmal eine andere und somit auch der Effekt. Welcher Reichtum von Wirkungen diesen Plätzen innewohnt, das kann man besonders aus den photographischen Aufnahmen des Markusplatzes und der Signoria zu Florenz erkennen. Mehr als ein Dutzend verschiedene Aufnahmen von verschiedenen Standpunkten her gibt es, und jede zeigt ein anderes Bild, so daß man nicht glauben möchte, immer wieder eine Ansicht desselben Platzes vor sich zu haben, wenn man es nicht wüßte. Das versuche man einmal mit einem schnurgerade rechteckigen modernen Platz! Nicht drei Ansichten von verschiedenem künstlerischen Inhalte kommen heraus, weil der protokollartig mit dem Lineal zusammengeschnittene moderne Platz einen geistigen Inhalt eben gar nicht hat, sondern nur so und so viel Quadratmeter leere Fläche.