DER STÄDTEBAU

NACH SEINEN

KÜNSTLERISCHEN GRUNDSÄTZEN.

EIN BEITRAG

ZUR LÖSUNG MODERNER FRAGEN DER ARCHITEKTUR UND MONUMENTALEN PLASTIK UNTER BESONDERER BEZIEHUNG AUF WIEN

VON

CAMILLO SITTE.

FÜNFTE AUFLAGE

MIT ANHANG: »GROSSTADTGRÜN.«

VERLAG VON KARL GRAESER & Ko WIEN 1922.

DRUCK VON FRIEDRICH JASPER IN WIEN.

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VORREDE.


Erörterungen über Systeme von Stadtanlagen gehören heute zu den brennenden Fragen der Zeit. Wie bei allen Zeitfragen bewegen sich auch hier die Urteile nicht selten in den heftigsten Gegensätzen. Im allgemeinen aber kann beobachtet werden, daß einer einhelligen ehrenvollen Anerkennung dessen, was in technischer Richtung in bezug auf den Verkehr, auf günstige Bauplatzverwertung und besonders in bezug auf hygienische Verbesserungen Großes geleistet wurde, eine fast ebenso einhellige, bis zu Spott und Geringschätzung gehende Verwerfung der künstlerischen Mißerfolge des modernen Städtebaues entgegensteht. Damit ist auch das Richtige getroffen, denn in technischer Beziehung wurde tatsächlich viel, in künstlerischer aber fast nichts geleistet und stehen den großartigsten neuen Monumentalbauten meist ungeschickteste Platzformationen und Parzellierungen der Nachbarschaft gegenüber. Da schien es denn angezeigt, einmal den Versuch zu wagen, eine Menge schöner alter Platz- und überhaupt Stadtanlagen auf die Ursachen der schönen Wirkung hin zu untersuchen, weil die Ursachen, richtig erkannt, dann eine Summe von Regeln darstellen würden, bei deren Befolgung dann ähnliche treffliche Wirkungen erzielt werden müßten.

Dieser leitenden Absicht zufolge soll die vorliegende Schrift also weder eine Geschichte des Städtebaues noch eine Streitschrift darstellen, sondern Material samt theoretischen Ableitungen für den Praktiker bieten; sie soll ein Teil des großen Lehrgebäudes praktischer Ästhetik und dem Stadtbautechniker ein willkommener Beitrag sein zu seiner eigenen Sammlung von Erfahrungen und Regeln, denen er bei Konzeption

seiner Parzellierungspläne folgt. Deshalb wurde auch ein möglichst reiches Material von -Illustrationen und hauptsächlich von Stadtplandetails beigegeben und wäre hiezu noch zu bemerken, daß für dieselben, so weit es nach dem vorliegenden Kartenmateriale möglich war, ein gemeinschaftlicher Maßstab angenommen wurde, dessen Einheit am Schluß (beim Illustrationsregister) angegeben ist. In einzelnen Fällen, wo dies nicht möglich war, wurde der Maßstab nach erfahrungsgemäß ziemlich sicheren Anhaltspunkten (mittlere Kirchenlänge etc.) wenigstens näherungsweise bestimmt. Die Beispiele sind auf Österreich, Deutschland, Italien und Frankreich beschränkt, weil der Autor dem Grundsätze folgte, nur Selbstgesehenes zu besprechen, von dem die ästhetische Wirkung nach eigener Anschauung beobachtet wurde. Nur nach diesem Grundsätze schien es möglich, allen technischen und künstlerischen Kollegen ein beachtenswertes nützliches Material zu liefern, dessen vollständige Erschöpfung ja ohnehin nur von einer Geschichte des Städtebaues, nicht aber von einer Theorie desselben verlangt werden konnte.

Wien, 7. Mai 1889.

C. Sitte.

ZUR ZWEITEN AUFLAGE.

Wenige Wochen nach dem Erscheinen fehlt das Werk beim Verleger schon gänzlich. Es ist dies ein erfreulicher Beweis, daß dem behandelten Gegenstände ein reges Interesse entgegengebracht wird. Nachdem bis heute aber fachliche Urteile noch nicht vorliegen und eine Vermehrung des dargebotenen Materiales mir auch sonst nicht nötig erscheint, so erfolgt diese zweite Auflage in gänzlich unveränderter Form.

Wien, Ende Juni 1889.

Der Verfasser.

ZUR DRITTEN AUFLAGE.

In hocherfreulicher und für den pessimistischen Autor höchlichst überraschender Weise hat sich der Grundgedanke dieses Buches, nämlich: auch auf dem Gebiete des Städtebaues bei der Natur und bei den Alten in die Schule zu gehen, seit seinem Erscheinen bereits mächtig in Praxis umgesetzt. Das wiederholt von Fachgenossen ersten Ranges öffentlich ausgesprochene Urteil, daß dem Städtebau hiedurch eine ganz neue Richtung gegeben wurde und daß dies ausschließlich das Verdienst dieses Buches sei, muß dahin richtiggestellt werden, daß eine solche Wirkung durch eine literarische Arbeit nur dann ausgeübt werden kann, wenn die ganze Sache bereits sozusagen in der Luft liegt. Nur wenn alle schon das gleiche fühlen und erkennen und es daher nur darauf ankommt, daß es irgend einer endlich einmal auch deutlich ausspricht, sind solche erfreuliche Wirkungen möglich. Da es bei diesem Sachverhalte nicht auf etlichen Zuwachs von Einzelheiten ankommt, so kann auch diese dritte Auflage hiermit in unveränderter Form erscheinen.

Wien, 24. August 1900.

Der Verfasser.

ZUR VIERTEN UND FÜNFTEN AUFLAGE.

Im Jahre 1902 erschien "Der Städtebau« in französischer Sprache: "L'Art de batir les Villes" traduit et complete par Camille Martin. Bei dieser Gelegenheit äußerte unser Vater t 16. Nov. 1903) auch für Veränderungen in einer neuerlichen deutschen Auflage des Buches seine Wünsche, welchen zum Teil schon in der vierten und vollständig in der fünften Ausgabe entsprochen wurde. Zu den Abbildungen sind die Pläne des Festplatzes von Olympia, der Akropolis von Athen und des Forum Romanum mit Benützung der jüngsten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung neu hinzugefügt; einige Grundrisse wurden erneuert und alle in den früheren Auflagen gezeichneten Ansichten durch photographische Aufnahmen ersetzt. Die Schrift über "Großstadtgrün", welche bisher nur einem kleinen Leserkreise zugänglich war, ist als Anhang beigegeben. Im Sinne der Vorreden zu den beiden vorhergegangenen Auflagen erscheint auch diese dem Wortlaute nach unverändert.

Wien, Dezember 1921.

Siegfried und Heinrich Sitte.

INHALT.

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